Die Theorie religiöser Evolution im Kontext der allgemeinen Evolutionstheorie

Evolutionstheoretische Ansätze zur Erfassung religionsgeschichtlicher Entwicklungen sind nicht neu, sondern erfreuen sich – zumeist verbunden mit kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen – in letzter Zeit einer gewissen Konjunktur. Allerdings ist die Theorie religiöser Evolution keine einfache Kopie oder Nachfolgerin der sozio-kulturellen Evolutionstheorie, weil die evolutionären Mechanismen von Variation, Selektion und Restabilisierung des Religiösen immer innerhalb des emergierenden und sich selbst reproduzierenden Religionssystems erfolgen. Ebenso wenig ist die sozio-kulturelle Evolution mit der biologischen Evolution identisch (Winter 1984; Portin 2015). Zugleich aber handelt es sich bei der religiösen Evolution um einen Homomorphismus zur allgemeinen sozio-kulturellen Evolution, ebenso wie diese homomorph zur organischen Evolution ist. Das ist anhand struktureller Analogien zwischen sozio-kultureller und biologischer Semiose zu erkennen (Barbieri 2007; Favareau 2010). Ein Homomorphismus bezeichnet strukturelle Analogien, aber keine Identität. Viele Ansätze einer Theorie religiöser Evolution reduzieren Religion jedoch auf eine psychisch-kognitive oder biologische Funktion.

Dagegen berücksichtigt die auszuarbeitende Theorie die Unterscheidung der evolutionären Schichten des Physischen, Organischen, Psychischen und Sozialen (Kauffman 2008). Diese Schichten sind Resultate evolutionärer Emergenz und somit in ihren Eigenstrukturen irreduzibel. Wenn man Religion als eine sozio-kulturelle Sinnform versteht, ist sie nicht auf psychische oder gar organische und letztlich physische Prozesse zu reduzieren. Diese Funktionen werden in der auszuarbeitenden Theorie als Umweltkorrelate religiöser Evolution nicht in Abrede gestellt, aber die Emergenz von Religion als ein genuin und irreduzibler sozio-kultureller Sachverhalt mit Eigenstrukturen verstanden. Diese Perspektive schließt die Interaktion der Religion mit ihrer gesellschaftlichen, psychischen, organischen und physischen Umwelt ein. Allerdings setzt Interaktion Differenzierung voraus. In einer religionswissenschaftlich ausgerichteten Theorie religiöser Evolution werden andere gesellschaftliche sowie psychische, organische und physische Prozesse zu Bestandteilen der religiösen Funktion, indem Religion diese Prozesse qua Fremdreferenz adressiert und mit spezifisch religiösem Sinn versieht. Von dort aus macht Religion ihrer sozio-kulturellen und psychischen Umwelt Sinnofferten, die über Formen des Lernens aufgenommen werden und nach je eigenen Vorgaben verarbeitet werden können; psychisch zum Beispiel als religiöses Erleben und etwa politisch, rechtlich oder wirtschaftlich als Legitimationsressource für die jeweilige Verfahrensrationalität.

Um die Differenzierung der evolutionären Schichten und zugleich den Homomorphismus zwischen ihnen berücksichtigen zu können, wird vor allem auf einen systemtheoretischen Ansatz zurückgegriffen. Er erfreut sich seit einiger Zeit auch in der Religionsforschung einiger Beliebtheit. Der systemtheoretische Ansatz Luhmannscher Provenienz geht davon aus, „daß es Forschungsgegenstände gibt, die Merkmale aufweisen, die es rechtfertigen, den Systembegriff anzuwenden; so wie umgekehrt dieser Begriff dazu dient, Sachverhalte herauszuabstrahieren, die unter diesem Gesichtspunkt miteinander und mit andersartigen Sachverhalten auf gleich/ungleich hin vergleichbar sind“ (Luhmann 1984: 16). In systemtheoretischer Perspektive ist es möglich, sowohl Komplexitätssteigerung als auch Komplexitätsreduktion innerhalb der religiösen Evolution sowie in der Interaktion mit ihrer Umwelt zu berücksichtigen. Zum einen wird Komplexität qua systemischer Differenzierung gesteigert; zum anderen wirken Systeme und so auch Religion in ihrer Differenzierung zwischen Innen und Außen, zwischen System und Umwelt und somit qua Interdependenzunterbrechung als komplexitätsregulierende Instanzen. Ein systemtheoretischer Ansatz ist für das geplante Unternehmen nicht zuletzt deshalb geeignet, weil sich mit ihm Religion als ein sich vereinheitlichender Gegenstand identifizieren lässt, ohne ihn zu enthistorisieren und zu essentialisieren. Religion ist in systemtheoretischer Perspektive eine aus Differenzen und Relationen emergierende und sich verändernde Einheit.

Eine der größten Herausforderungen der Theorie religiöser Evolution besteht darin, die Ausdifferenzierung der Religion im Prozess gesellschaftlicher Differenzierung zu rekonstruieren, ohne für jeden Zustand religiöser Evolution einen distinkten und einheitlichen Religionsbegriff anzulegen. Es geht folglich um eine konsequente „Historisierung von Religion“ (Bergunder 2011: 20) und zugleich darum, gegenwärtige systematische Einsichten der Religionsforschung mit der Religionsgeschichte zu vermitteln (Rüpke 2007, 2014). Um dieser Aufgabe nachzukommen, wird das Verfahren einer ‚retrospektiven Genealogie‘ angewendet, wie das auch Reinhard Schulze (2015) mit Blick auf die Geschichte des Islam tut. Damit ist eine gewisse Zirkularität zwischen Gegenwart und Geschichte gegeben, die sich aber in eine Erkenntnisspirale umformen lässt. Dazu verhilft unter anderem die Unterscheidung zwischen dem Adjektiv ‚religiös‘, seiner Substantivierung und dem Nomen ‚Religion‘ (Stausberg 2010) sowie zwischen den Differenzpaaren sakral/profan, transzendent/immanent und religiös/säkular (Schulze 2015: 124–147). Diese Unterscheidungen sind nicht als Sukzession zu verstehen – etwa als einander ablösende Stadien, wie noch die ältere Religionsforschung überwiegend annahm –, sondern als Komplexität steigernde Überlagerung.

Literaturangaben